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31 Sekunden

  • hartmanntabea
  • 14. Okt. 2022
  • 4 Min. Lesezeit

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Lois war in den letzten Wochen, seitdem wir aufgebrochen sind, immer wieder leicht genervt, weil sie in meinem Blick immer schon ahnte, welcher Satz gleich kommen würde: „Ich kann nicht glauben, dass wir hier sind!“ Warum sie genervt war, weiß ich nicht genau. Vielleicht weil für sie diese Reise und dieser Aufbruch ins Ungewisse völlig normal und logisch ist und nicht immer wieder bestaunt werden muss. Vielleicht, weil sie mit ihren sechs Jahren nie in Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten denkt und damit berechnen könnte, dass es relativ unmöglich ist, mal für ein paar Wochen in Costa Rica zu leben- auf der Durchreise nach Peru. Vielleicht war sie genervt, weil ich lieber still sein und die Kekse und die Badesachen rausrücken sollte. Oder sie war einfach gelangweilt, weil ihr mein Staun-Vokabular nicht sehr ausgefeilt scheint… Dabei ist sie doch diejenige, die, wie auch ihre kleine Schwester, noch nie einen Umzug erlebt hat. Die beiden Jüngsten haben ihr Geburtshaus verlassen, mussten so viel Geborgenheit aufgeben, Haus und Hof, Gemeinde, die verlässlichen Geburtstagspartygesellschaften, die Freunde, das unbeschwerte und geliebte Fahrradfahren in Haus und Hof, die Herbstspaziergänge, das Laternelaufen mit den Patenonkeln- und tanten, die Schoki im Büro von Sekretärin und Kirchenpflegerin, die Kirche und das Gemeindehaus, die ihnen ein Zuhause waren… und ach, natürlich könnte ich noch viel mehr aufzählen.


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Mittlerweile hat sich das Staunen etwas verändert. Und ein wenig Alltag kehrt ein. Das ist noch nicht so leicht, die Sache mit dem Alltag, weil das Haus noch so leer ist. Aber die Schule hat am Montag begonnen und nach und nach (nach ein paar Gesprächen und Abwägen und nach ein paar Krankheitstagen) sind alle Kinder in die neue Schule gestartet. Und heute ist der erste Tag, an dem alle Kinder in der Schule sind. Für Samuel bedeutet diese Woche jeweils am Morgen und am Nachmittag zwei oder mehr Stunden Bring-, Warte- und Abholdienst. Oder man könnte auch sagen, jeweils zwei oder mehr Stunden nur für und mit den Kindern. Warten aufs Bringen und Holen bedeutet hier: Im Stau stehen, sich anstellen, einreihen, sich in zweiter Reihe einparken zu lassen von den großen SUVs, Cola kaufen, spazieren zu gehen und ein bisschen mit anderen Eltern zu schwätzen. Wenn wir in der Schule einen Termin haben (wie letzte Woche eben ein bis zweimal am Tag), dann bedeutet es: durchs Sicherheitspersonal reingelassen zu werden, zu warten, zu warten, zu warten... Worüber unsere Kinder staunen sind u. a. die riesigen Vespergepäckstücke, die die MitschülerInnen mitbringen. Und woran wir uns alle gewöhnen müssen, ist natürlich das Spanisch. Manchmal verstehen wir etwas. Manchmal können wir sogar schon sagen, was wir meinen oder ausdrücken, was wir wollen. Und manchmal sind wir einfach völlig… lost.



Ich bin vor ein paar Tagen vor die Tür gegangen, um den Müll rauszubringen. Komischerweise war der Wächter nicht zu sehen. (Der Wächter bzw. „Vigilante“ hat eine kleine Holzhütte, telefonzellengroß, in der er sitzt und seinen Kaffee trinkt. Und ansonsten ist er einfach für ein paar Einfahrten zuständig und schaut nach dem Rechten. Wenn wir nicht schnell genug das Tor hinter uns zu machen, kommt er und sagt, dass wir schnell das Tor zu machen sollen. Er heißt Wilmer. Ist sehr freundlich. Und er gibt einem das Gefühl, dass alles in Ordnung ist.) Also, Wilmer war nicht da, aber der Dogwalker. Der läuft mehrmals täglich mit verschiedenen Hunden der Anwohner um den Block- mit seiner speziellen Mütze und immer zwei Masken übereinander und seiner Trainingsjacke erkenn ich ihn immer sofort. Ich grüße ihn schon von Weitem. Er ist sozusagen ein guter Freund geworden. Also von Weitem. Und weil er da jetzt in der Nachbarseinfahrt stand, wollte ich mich mal vorstellen gehen. Das macht man ja so unter Freunden. Ich stellte mich also vor, sagte, dass wir neu hergezogen sind usw. Aber er reagierte zögerlich. Dann fragte ich ihn ganz direkt nach seinem Namen. „Wilmer!“ Hach, den Namen scheint es hier öfters zu geben. Dann nahm er die Masken ab und die Mütze auch… Qué madre!


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Ansonsten versuchen wir langsam, uns einzugewöhnen. Wir sind sehr dankbar, wenn die Sonne scheint und die Kinder den kleinen Pool nutzen können! Wir sind sehr dankbar für schöne Gespräche und erste Kontakte. Und wir üben uns in Geduld. Oder versuchen es. Warten auf den Container, auf Freundschaften, auf schöne Möglichkeiten, darauf, dass wir uns zu Hause zu fühlen, warten darauf, einen neuen Platz finden-in der Klasse, in der Stadt, im Leben. Und wir versuchen uns zu orientieren- in der Stadt, mit und ohne Navi, im Haus, wo waren nochmal die Streichhölzer oder im Wein- in welchem Land wohnen wir nochmal (siehe Foto)? Und wir halten natürlich unsere Augen weit offen- auf der Suche nach Herzensprojekten und anderen Dingen...

Gestern hatte Zoe Geburtstag. Weil- nach unseren Eindrücken im April- wir alle Fahrräder in Deutschland zurückgelassen haben, gab es ein neues für sie. Und ein kleines Faultierkuscheltier. Und Topfschlagen und drei Schatzsuchen und eine Lamapiñata. Und ein geeignetes Mehl hatten wir auch endlich gefunden, um Hefezopf und Geburtstagskuchen zu backen, der ein bisschen nach zu Hause schmeckt. Und stellt euch vor, als Lois nach ihrem ersten Kinditag heimkam, haben wir sie gefragt, ob sie schon eine Freundin gefunden hat. „Ja! Nach 31 Sekunden!“


Auf die Freundschaft, den Wein und die Sonne, seid herzlich gegrüßt, Tabea und Samuel







 
 
 

1 Kommentar


martin.remus
31. Okt. 2022

Toll geschrieben! Alles Gute für diese Zeit und für alles, was Ihr tut - für die Gemeinde, für Menschen darüber hinaus und für Euch!

Martin Remus (Kommilitone von Heino und 35 Jahre lang Pfarrer in Erfurt)

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Über uns

Wir sind Familie Hartmann. Wir leben seit Oktober 2022 in Lima/Peru und arbeiten in der deutschsprachigen Evangelischen Kirche in Peru IELP. 

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