Ein Hoch auf das, was nervt!
- hartmanntabea
- 10. Mai 2024
- 7 Min. Lesezeit
Es geht uns vortrefflich gut! Es geht uns so gut, dass man sich schämen müsste! Wir sind mal soweit eingewöhnt in den neuen Hort oder an dem neuen Ort. Die Stadt bietet als Großstadt natürlich neben all der Armut auch wunderschöne Möglichkeiten und gute Lebensräume. Du kannst, wenn du willst, am Ssamstag surfen und am Sonntag Schlittschuhlaufen gehen. Es gibt Parks mit Grün. Und unsere Casita hat inzwischen so viele gemütliche Ecken, die uns einladen, am Nachmittag noch was gemeinsam zu spielen oder am Abend noch zusammenzusitzen und gemütlich zu schwatzen (inzwischen mit warmen Decken, denn es wird langsam Winter hier).
Heute möchte ich euch etwas erzählen, was mich nachdenklich gemacht hat und aus dieser Perspektive ein wenig Rückschau halten.
Ich habe auf Instagram ein Reel von einem christlichen Comedian, dem ich folge (michaeljrcomedy), gesehen . In dem kurzen Video erzählt er von der Zeit, als er Klamotten verkauft hat, um über die Runden zu kommen. Ein extrem nervige und sich herablassend äußernder Kunde hat ihn nach dem Preis eines T-Shirts gefragt. Er antwortete: "Für dich 50 Dollar." Der unangenehme Mensch verließ den Laden. Eine andere Kundin hatte das ganze unschöne Gespräch dazu mitgehört und sagt zu ihm: "Sie sind es wert", gab ihm 50 Dollar, nahm ein T-Shirt und ging. Er musste noch zur Kasse gehen, um Wechselgeld zu holen. Denn das T-Shirt war in Wirklichkeit nur 10 Dollar wert. Als er zurückkam, war die Frau weg und die nächsten Kunden standen schon bereit. An diesem Tag verkaufte er 13 dieser 50-Dollar-Shirts, die eigentlich nur 10 Dollar wert waren. Ein Kunde nach dem anderen drückte ihm das Geld in die Hand. Was er an diesem Tag lernte, war, erstens, so erzählt er in dem Video, wie gut Gott für ihn sorgt und zweitens, wie wichtig nervige/unangenehme Menschen und Situationen im Leben sein können.

Schöner Fladen von ecuadorianischen Kühen auf dem Weg, ganz früh am Morgen, als wir Felsenhähne erspähen waren. Ich finde, man kann fast ein Herz im Zentrum des Fladens erkennen. Der Regen hat also noch etwas Gutes aus dem Haufen gemacht.
So will ich mal ein bisschen von unserer letzten Zeit erzählen... mit ein paar kleinen Nervigkeiten.
Jemandem war eingefallen, dass die lästigen Kakerlaken mal beseitigt werden müsste und die Kirche eine ordentliche Portion Ungeziefervertilgungsmittel gebrauchen könnte. Das wurde am Freitag großzügig verteilt. Als wir dann am Sonntag in die Kirche kamen, waren alle Räume unbelüftet. Das Mittel war in allen Räumen noch ziemlich präsent. Also wollten wir den Gottesdienst spontan nach draußen verlegen. Aber nach ein paar Minuten wurde uns auch dort die Zungenspitze etwas pelzig. So verlagerten wir uns zu uns nach Hause. Ein paar Tassen, der bereits gekochte Kaffee und eine Kiste Gesangbücher waren schnell gepackt. Hanna richtete den Blumenschmuck in unserem Gärtlein her und vorn bei der Terrasse stellten Samuel und die Kinder Stühle und Sonnenschirme auf. Hefezopf war auch genügend in der Küche und Instrumente haben wir ja sowieso genug. Den Gottesdienst haben wir sogar aufzeichnen können. Es war eine richtige Gemeinschaftsaktion. Jeder hat schnell etwas beigetragen und schon war es schön, familiär und feierlich zugleich. Ein Hoch auf die klassische Fehlplanung! Ohne die wären wir nicht auf die Idee gekommen, Gottesdienst einfach mal bei uns im kleinen Hof zu feiern. Vielleicht wegweisend...

Für Juni haben wir ein Gemeinde-Familien-Wochenende geplant. Seit längerer Zeit wenden wir uns an die Zuständigen eines bestimmten Platzes, der uns einfach sehr praktisch erscheint - nicht zu teuer, nicht zu weit und mit ein paar schönen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Auf jeden Fall hat uns der Zuständige immer wieder hingehalten und nie verlässliche Angaben geschickt. Nun gehen wir an einen anderen Ort, etwas spontan, aber mit einer fröhlichen und herzlichen Einladung an uns! Wir freuen uns über diese neue Möglichkeit, die noch für Einiges mehr zu stehen scheint als nur für die Gemeindefreizeit. Ein hoch auf den nervigen Zuständigen von Option A!
Zwei Beispiele solcher kleinen Nervigkeiten aus unserem Alltag. Hier hat sich alles gut gefügt bzw. es ist gut gefügt worden. So gut, dass ich mir vornehme, auch für die großen Nervigkeiten oder die noch übleren Momente und Begegnungen eine Portion dieser Einstellung mitzunehmen: Wenn alles nur glatt liefe, über wen sollten wir uns aufregen :), an wem dürften wir uns abarbeiten, wer oder was dürfte uns formen! Vielleicht tun uns all die eher anstrengenden Menschen in unserem Leben einen großen Dienst, ohne es zu wissen. Sie helfen uns, den richtigen Weg oder bessere Möglichkeiten zu finden. Sie machen uns im besten Fall vielleicht sogar zu besseren Menschen, weil wir durch sie etwas lernen durften, von dem wir vorher nicht einmal wussten, dass wir es lernen müssten.
Wie ihr wisst, tun wir uns hier nicht immer leicht mit unseren Aufgaben. Eine gute Idee und - zack - angeeckt. Ja, vielleicht war die Idee einfach noch nicht so super gut, sondern brauchte eben den nervigen Schliff.
Aber nicht nur uns scheint es so zu gehen. Im April waren wir wieder als ganze Familie zur EKD-Regionalkonferenz der nach Amerika Ausgesandten eingeladen. Dieses Mal trafen wir uns alle in Ecuador. Der Kollege vor Ort hatte einen wirklich schönen Ort für die Konferenz ausgesucht (der so schön war, dass es uns quasi untersagt war, Bilder zu posten) und dazu noch eine kleine Vor-Konferenz organisiert. Wer wollte, durfte also schon früher anreisen und noch mehr über die Arbeit der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Quito erfahren und dazu noch ein Gemeindemitglied etwas außerhalb besuchen. Heike Brieschke hat mit ihrem Mann auf dem Land, das sie gekauft haben, Regenwald rekultiviert. Sie machen gemeinsam viel Bildungsarbeit im Bereich Biologie und Ökologie (www.mindolindo.de). Davon durften wir ein wenig erfahren. Wir haben Tukane von ihrer Terrasse aus gesehen, haben Andenfelsenhähne singen (kreischen) hören, waren in einer Baumschule und haben gelernt, wie Bäume am Hang wachsen und Wanderpalmen wandern können. Wusstet ihr, dass manche Bäume kein sekundäres Dickenwachstum haben? Die wachsen erstmal ganz lang unter der Erde. Und wenn sie dann rauskommen, bleiben sie ihr Leben lang eben genauso dick oder dünn wie der Erde entsprungen. Verrückt, oder? Wir hingen alle an Heikes Lippen und staunten so über das komplexe Zusammenspiel der Arten. Regenwald wieder anzupflanzen ist gar nicht so einfach. Ein paar Bäume anzupflanzen geht eventuell noch. Aber diese ganzen Pflänzlein und Tiere herum, die es braucht, um das ganze Ökosystem wieder zu beleben!?! Die Minimücke, die die einzige ist, um genau die eine Pflanze zu bestäuben. Der Schmetterling, der die eine Pflanze braucht, um sich bei ihr zu tarnen. Die Ameisen, die sich genau von den Blättern des einen Baumes ernähren und anderesherum wieder den Boden bereiten für eben genau diese andere Pflanzenart. Großartig. Und gar nicht nervig. Nur Wut steigt immer wieder auf, wenn man bedenkt, wie großzügig abgeholzt wird. Wie Menschen, um Brot für heute zu haben, einfach das vernichten, was auch das Brot für morgen sein könnte. Leider können die, die tatsächlich die Säge an den Baum setzen, meistens ja auch nicht wirklich was dafür, dass sie so für ihr Überleben kämpfen müssen.
Was ich bei Heike Brieschke und ihren vielen Geschichten im Ökosystem Regenwald unter anderem gedacht habe, ist: Es reicht eben nicht einfach einen Baum dahinzupflanzen und zu sagen: "So, dann wachse mal schön, Ökosystem/Beziehungsgeflecht!" Du kannst nicht einfach aus Europa nach Südamerika in ein Schwellenland kommen, eine gute Aktion machen und denken: So, nun ändere dich mal schön, Armut/Bildung/Situation der Frau in einer machistischen Gesellschaft. Man muss das Ökosystem verstehen. Dass man eben auch nichts kaputt macht. Was man selbst für unnütz hält, kann lebensfördernder Kompost sein. Und außerdem ist alles sehr komplex... Gut, das wussten wir schon. Aber schadet nicht, das immer mal wieder zu sagen.
Auf der tatsächlichen Konferenz war es natürlich wieder absolut schön, abends mit den KollegInnen und Familien zusammenzusitzen und sich auszutauschen. Den Kindern tat die Gemeinschaft untereinander so gut. Der Kollege aus Ecuador hatte zwei liebe junge Menschen gefunden, um die Kinder auf der Konferenz gut zu begleiten und mit ihnen eine wertvolle Zeit zu gestalten! Ich hab andererseits mal wieder gemerkt: Was mich furchtbar nervt, ist Inhaltslosigkeit. Das kommt natürlich wie ein Bummerang zurück: Dann sei halt selber inhaltsvoll! haha... Ein Hoch darauf also!
Im letzten Blogeintrag hab ich euch von der Choridee erzählt und von den zwei peruanischen Frauen, die inzwischen relativ regelmäßig zu uns in den Gottesdienst kommen. Es hat sich herausgestellt, dass eine von ihnen, Betsabeth, im Bildungsfeld tätig ist und früher in einem kirchlichen Netzwerk Programme für Jugendliche organisiert hat. Wir haben uns zusammengesetzt und miteinander kurzer Hand das Chorprojekt "Voces Valientes Comas" gegründet. Ab dem 11. Mai werden wir jeden Samstag in Comas, im Erdgeschoss ihres mütterlichen Hauses, für Kinder da sein, sie mit einem guten Frühstück versorgen - Dank Tante Suzi - und ihre Stimmen hören und fördern. Dass wir inzwischen soweit gekommen sind, haben wir vielen Menschen zu verdanken: Hans-Peter Bruker mit der BRUKER-Stiftung, der uns so viel Vertrauen schenkt, unserem Schwager Simon, der sich kurz nach dem ersten Post zur Choridee gemeldet und ein Logo entwickelt hat, unserer Kirchengemeinde hier, die als durchführende Organisation mit Rat und Tat zur Seite steht. Comas ist leider nicht gerade um die Ecke. Wir waren schon einmal zuvor in Comas. In einer eher rauen Gegend. Und wer hier in Surco von Comas spricht, tut es eher mit einer kurzen Pause danach, dass sich die aufgestellten Nackenhaare wieder legen können. Wir durften feststellen - mit unserem sehr kleinen bisschen an neugewonnener Erfahrung: Comas kann ganz nett sein. Da gibt es auch Bäume und sehr nette Menschen.
In der Schule sind unsere Kinder gerade ins zweite Viertel des Schuljahres gestartet. In dieser Woche gibt es ein paar Projekttage. Sie kommen unterschiedlich begeistert nach Hause. Jael hat es schlimm erwischt. Sie ist in einem Projekt zum Thema Biodiversität gelandet. Klingt ganz interessant. Nur, dass sie da nichts über die Biodiversität lernt und den Kindern etwas gezeigt, erzählt oder vorgestellt wird. Nein, sie sollen "Arbeiten!" und Plakate erstellen, damit auch was präsentiert werden kann, wenn am Samstag die Eltern zur Projekt-Tage-Schau kommen. Was soll ich sagen. Die Sache mit den Äpfeln und Stämmen wahrscheinlich. Die Inhaltslosigkeit nervt sie furchtbar. Wahrscheinlich wird sie mal Lehrerin. Oder coacht Lehrende. Könnte ich mir auch vorstellen. Oder sie gründet eine Schule.
Was sonst noch so geschah:
Weil der Vulkankrater am Äquator in Ecuador so vernebelt (Bild 1) und es so kalt war (Bild 2), sind ein paar schöne Bilder entstanden. Langeweile und Kälte nerven halt...
Erdrutsche, die die Straße für längere Zeit unpassierbar machen, nerven schrecklich. Aber deshalb einen Verlegenheitstrip zum Äquator zu machen und in einem Hotel mit diesem besonderen Ausblick aufzuwachen, sind Erfahrungen, die wir überhaupt nicht missen wollen!
Weil immer so weit von einander entfernt zu sein nervt, sind Leo und Lucas mal eben vorbeigekommen und Zoe hatte für ein paar Tage ihren Patenonkel ganz in der Nähe. Hach, war das schön!

Und nun halten wir einfach Ausschau... nach dem nächsten Besuch, nach dem nächsten Abenteuer, nach der nächsten Lösung, nach der Verbesserung, dem Umweg, dem Feinschliff.

Wir freuen uns schon sehr auf unserer erste Reise nach Deutschland nach zwei Jahren! Wir sind gespannt, einige von euch zu sehen und wir müssen unbedingt ein paar Feste zusammen feiern und nachfeiern und verbleiben Gott befohlen, eure Hartmanns























































Wieder ganz wunderbar geschrieben, herrliche Fotos und tiefsinnige Gedanken (was nervt, muss nicht immer schlecht sein!)! Danke!
Liebe Grüße und weiterhin Mut und Gelingen für Eure Arbeit
Martin Remus (Pfarrer in Erfurt und Kommilitone von Katharina und Heino in Leipzig)