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Auf den ersten Blick - Auf der Panamericana Norte

  • hartmanntabea
  • 28. Jan. 2023
  • 6 Min. Lesezeit

Wir sind wieder zu Hause - nach siebenmal Ein-und Auspacken, nach ungefähr 3000 km, die fast nur durch Wüste geführt haben, nach ungefähr 783 Speedbumps (Huckel auf der Straße, die einen zum Bremsen zwingen, um nicht die Achse des eigenen Autos zu zerbrechen, auch "Achsenbrecher"genannt), nach vielen neuen Eindrücken, Farben und Geschmäckern.

Auf der Hinreise waren wir immer wieder etwas nachdenklich. Denn die Bilder, die wir von den armen Stadtteilen Limas kennen, scheinen sich durchs ganze Land zu ziehen. Überall sahen wir einfache Behausungen ohne Ende, Menschen, die barfuß gehen, Kinder, Alte, Eltern mit ihren Kindern auf dem Arm, die betteln, streunende Hunde und dazu noch überall und unendlich viel Müll.

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Auf den ersten Blick denke ich als Europäerin: So kann man doch nicht leben! Junge Männer verkaufen Süßigkeiten an die Vorbeifahrenden an der Straße. Viel zu junge Frauen tragen ihre Babys auf dem Arm. Alte wühlen im Müll und laufen dann humpelnd weiter. Wo sind die Schulen? Wer bildet euch? Wer traut euch was zu? Wer schützt euch- eure Körper, eure Seelen?

Auf der Suche nach Antworten haben wir beide auf dieser Reise angefangen ein Buch zu lesen: "Die offenen Adern Lateinamerikas" von Eduardo Galeano. Ich vertrage immer nur ein paar Seiten, dann muss ich es wieder weglegen. Die Geschichte Lateinamerikas wird einem da nur so um die Ohren gehauen. Auf die brutale Art. Ohne um den Brei herum zu reden.

Ein paar Antworten deuten sich in mir an. Der Gold- und Silberrausch hat die Europäer so verblendet, dass sie dafür Millionen von Menschen beraubt haben- um ihre Gesundheit, ihre Freiheit, ihre Würde, ihr Land, ihre Kultur, ihr Leben. Man vermutet, dass vor Ankunft der Europäer mehr als 70 Millionen Menschen in Amerika (ganz Amerika) lebten. 150 Jahre waren es nur noch 3,5 Millionen. Um die tödliche Arbeit in den Bergwerken zu verrichten, mussten deshalb zusätzlich Menschen aus Afrika nach Amerika gebracht werden. Wir kennen alle die Geschichte... Das Gold und Silber, das gefördert wurde, kam nach Europa und füllte dort die leeren Kriegskassen, förderte den Wohlstand, die Bildung, die Industrialisierung und die europäische Überlegenheit. Natürlich gab es in Europa auch viel Leid und Elend. Aber der ganze Reichtum aus Amerika schuf wohl ein gute Grundlage, um sich gesellschaftlich zu entwickeln. Und wenn ich durch diese unendliche vielen armen Gegenden hier, in der unendlich trockenen Wüste, mit unendlich viel Müll rechts und links der Straße fahre, dann fährt es mir durch Mark und Bein, dieses Gefühl, dass jemand wohl einen Preis für meinen europäischen Wohlstand bezahlt hat.

Vielleicht werde ich diese Gedanken in einem Jahr oder schon in ein paar Wochen anders formulieren. Und hoffentlich werden ich irgendwann noch mehr von den Zusammhängen verstehen oder deuten können. Es ist einfach eine Momentaufnahme. Auf dem Weg. Und auf den ersten Blick.

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Auf den ersten Blick, als wir Menschen von unserer Entscheidung erzählt haben, für ein paar Jahre nach Lima zu gehen, wurden wir ab und zu gefragt, ob wir in die Mission gingen. Auf diese Frage kann ich ehrlich gesagt, immer noch nicht ganz antworten.

Mission bedeutet doch, dass man von irgendjemandem irgendwohin geschickt wird, um etwas ganz Bestimmtes zu tun. Es gibt ganz klare Erwartungen.

Und für uns als Christen kann es bedeuten, dass wir uns als Gesandte fühlen: Im Gepäck die christliche Botschaft. Eine Gemeinde entsendet uns oder Gott selbst. Oder aber wir halten es einfach ganz mit Jesus und verlassen uns auf ihn als den Gesandten. Im Gepäck: Liebe und Rettung.

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Es ist bei uns nur so, dass wir uns nicht eindeutig und mit klaren Erwartungen hierher geschickt fühlen. Die Türen sind einfach aufgegangen. Genau nach Lima haben sie uns geführt, die offenen Türen, und nirgendwo anders hin. Und hier in Lima begrüßen und begegnen uns so viele Menschen so freundlich, die uns gern etwas von ihrem Land und von sich zeigen. Eine große Kirche steht da. Das Pfarrhaus ist uns ein gutes Zuhause. Mich beschleicht das Gefühl, dass wir nicht Gesandte sind sondern viel mehr Eingeladene.- Ich bin eingeladen, um meine Blick zu weiten, über meine Grenzen zu gehen, mich verändern (lassen) zu dürfen, eine neue Sprache zu hören und irgendwann vielleicht sogar zu sprechen. Vielleicht kann ich irgendwann sagen: Genau dieses oder jenes ist unsere Mission hier. Aber auf den ersten Blick fühle ich mich so: Eingeladen. Und es ist ein ganz fabelhaftes Gefühl. Und ich bin sehr dankbar.

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Ok, ein bisschen geschickt fühle ich mich auch. Das ist auch irgendwie leichter, wenn uns Heimweh überfällt oder wir überlegen müssen, warum wir nochmal genau hier sind. Dann tut es gut, einfach sagen zu dürfen: Gott hat uns geschickt. Sein Ding. Wir machen einfach mal.


Während unserer Reise begannen sich die Proteste im Land auch in den Norden auszuweiten. Es war für einige Tage überhaupt nicht sicher, wann und wie wir heimkehren könnten. Wir haben verschiedene Pläne entwickelt für den Fall, dass die Panamericana blockiert sein sollte: länger im Urlaub zu bleiben und abzuwarten (hört sich eigentlich recht chillig an, sollte nur nicht zu lange gehen, aus Kostengründen), das Auto stehen zu lassen und nach Lima zu fliegen oder Flucht nach vorn... weiter in den Norden, um vielleicht bei den Kollegen (Quito, Bogota) Unterschlupf zu finden...? Gott sei Dank konnten wir aber wie geplant nach Hause fahren. Wir durften einfach vorbeifahren an den Brandflecken auf der Straße, an den großen und kleinen Steinen und Felsbrocken, die Tage vorher noch ein Weiterkommen unmöglich gemacht hatten.

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Wer genau hinter den Protesten steckt, ist uns noch nicht ganz klar. Einige Menschen sagen, es sind terroristische Gruppen, die die Demokratie und das gewähnte Establishment zerstören wollen. Andere sagen, es sind die Drogenbosse, die einfach ein leichteres Leben haben, wenn die Regierung geschwächt ist. Die Forderungen der gewalttätig Protestierenden klingen wie eine Lösegelderpressung. Aber immer wieder gibt es auch kleine Gruppen, die friedlich für Demokratie demonstrieren und auch verzweifelte, aber friedliche Menschen, auf der Suche nach Perspektiven. Auf den ersten Blick scheinen diese Proteste das Land im Moment extrem viel zu kosten: Schon fast fünfzig Menschen sind gestorben. Furchtbar! Infrastrukturen brechen zusammen, Gebiete werden unpassierbar, der sich gerade erholende Tourismus bricht wieder völlig zusammen. Die Präsidentin wiederholt mantraartig ihre Einladung: Kommt und lasst uns sprechen! Wir setzten uns an einen Tisch. Wenn ihr etwas zu sagen habt, dann kommt und sprecht! Ich erwarte euch.

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Wie es weitergeht in diesem Land, weiß im Moment niemand. Die Hoffnung ist groß, dass es friedlicher wird. Dass sich die Menschen in diesem Land wieder freier bewegen können. Dass es Mittel und Wege gibt, um sich als Gesellschaft gemeinsam und aufeinander zu zu entwickeln. Und vielleicht geschehen Wunder und gute Bildung wird für alle zugänglich. Und frisches Wasser. Und das Land könnte sich seinen eigenen Problemen stellen. Mit weniger Egoismus und Verblendung auf der Seite derer, die an der Macht sind. Und es gäbe faire Handelspartner im In- und Ausland. Immerhin kommt unser Bundeskanzler Scholz ja in den nächsten Tagen fast nach Peru...

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Und in all diesen Gedanken und der zum Himmelschreienden Not, haben wir wundersamer Weise einen ganz wunderbaren Urlaub erleben dürfen. Man kann nur staunen (und tausende Fotos machen) über die unzähligen Farben der Wüste, das Blau des Wassers, die Schönheit und Fruchtbarkeit der Flusstäler in dieser Wüste, die vielen Tiere, den Fischreichtum, das frische Essen, die leckeren Früchte, die hohen Wellen, Ebbe und Flut, die freundlichen Menschen, die Mangrovenwälder und die schwarzen Möwen, die Pazifikpelikane und die feuerroten kleinen Dschungelschlamm-Krebse! Und ich staune über die Menschen, die so viel in Kauf nehmen, um für ihre Familien zu arbeiten, die mit ihrem Pferd oder Esel ihr kleines Feld umgraben, die Unmögliches wagen und sich für nichts zu schade sind.

Ein weitere kleine Überraschung war übrigens, dass die vielgepriesenen Badestrände im Norden ausgerechnet in diesen Tagen viel zu gefährlich waren zum Baden. Die Wellen waren so stark und hoch. Das Wasser hatte so enorme Kraft. Selbst da, wo man nur mit den Füßen im Wasser stand, hat es einen immer wieder überraschend mit so viel Wucht ins Meer ziehen wollen. Das war verrückt. Hab in hundert Meter Luftlinie zum Meer meiner Schwägerin eine ewig lange Sprachnachricht aufgenommen. Sie hat nichts verstanden. Nur Wellengetose war zu hören. Oleaje. Fast an der ganzen Pazifikküste.

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Was soll ich sagen. Das Leben ist wirklich anders hier. Auf den ersten Blick wirkt Vieles so viel ärmer, heruntergewirtschaftet, misstrauisch, erbärmlich. Auf den zweiten Blick ist das Leben hier so reich und vielfältig. Wüste, Ozean, die höchsten Gipfel und der Dschungel- alles in einem Land. So viele Kulturen, die sich gegenseitig im besten Falle bereichern können. So viele Hürden und Widrigkeiten, die die Menschen hier nehmen, um etwas aufzubauen und im besten Falle, über sich hinauszuwachsen. Und wie sich manche von ihnen einsetzen, um der Korruption, der Ausbeutung von Mensch und Natur, dem Missbrauch, dem Mangel an Bildung und Ernährung zu trotzen- das lässt mich staunen. Eingeladene, Gesandte, Hineingestolperte, Suchende, Findende und Hängengebliebene. Ich freu mich drauf, ganz viele von ihnen kennenzulernen.

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Seid herzlich gegrüßt, Gott befohlen, eure Tabea


 
 
 

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Über uns

Wir sind Familie Hartmann. Wir leben seit Oktober 2022 in Lima/Peru und arbeiten in der deutschsprachigen Evangelischen Kirche in Peru IELP. 

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